Mittwoch, 19. Oktober 2011

Sorglos

Der Albtraum hat dich aufschnellen lassen. Schweißgebadet starrst du aus geweiteten Augen in die Finsternis. Wie ferngesteuert tastest du dich zur Tür, öffnest sie zögerlich, äugst durch die Nacht und schmeißt dich dann splitternackt in den jungfräulichen Kristallschnee. Es zischt, es dampft. Die bösen Geister entweichen somit - sie mögen die Kälte nicht - sie verdunsten mit einem Zisch zurück in die Hölle. Die bist du erstmal los - aber nicht den makaberen Traum, den sie dir wie eine Zecke ins Hirn gesetzt haben. Seine Botschaft schlüpft gerade und macht es sich heimisch zurecht in deinem Kopf. Er richtet sich ein wie der Papst im Vatikan.

Da liegst du nun bäuchlings im Schnee und weißt vorerst nicht einmal, wer und was du eigentlich bist. Du drehst dich auf den Rücken... und wiederum zischt es. Dann schaust du an dir herunter und begreifst schon mal, dass du kein Mann mehr bist. Zur Sicherheit lässt du deine Hand zwischen die Schenkel gleiten ... hältst erschrocken den Atem an... und schreist laut auf: auch eine Frau bist du nicht. Da ist weder Pimmel noch Schlitz, da ist gar nix - glatt verläuft's dort unten rundherum, vom Nabel bis zum Rücken.

Du richtest dich misstrauisch auf, beugst dich wieder nach vorne und starrst ungläubig dahin, wo einst dein Gemächt baumelte. Trauer und Wehmut kommt auf. Und du glaubst, noch immer träumen zu müssen. Ist aber nicht so - du lebst in der Realität und alles ist bittere Wahrheit: Du bist Geschlechtslos! Dann lässt du deine Hand nochmals unter dich gleiten und entdeckst, dass da nicht einmal das kleinste Löchlein mehr ist. Du bist sogar afterlos. Du bist zum ersten Mal in deinem Leben, vollkommen dicht.

Und allmählich rieselt die Erkenntnis über dich, dass du ab heute nichts mehr zu essen und zu trinken brauchst ... solltest .... müsstest. Nie wieder auf ein Klo gehen zu müssen. Nie wieder anstehen oder nicht das nötige Kleingelt für'n Piss in der Stadt zu haben. Heureka! Jetzt erst reißt du die Augen richtig auf. Für einen zweiten lauten Schrei bleibt dir jetzt sogar die Luft weg - so arg, dass du zu ersticken drohst.

Die Kälte beginnt in dich überzugehen, denkst du - weil so müsste es ja sein. Aber es ist nicht so: du frierst nicht - die Kälte kann dir nichts antun. Dir ist pudelwohl zumute. Du sitzt noch immer im Schnee und stützt dich mit den Armen locker nach hinten ab. Du willst deine Sinne sammeln. Du kannst wieder atmen. Nüchternheit kehrt in deine Birne ein. Du bist grad dabei, dich mit deinem neuen Körper zu identifizieren. Die Panik weicht der Angst, die Angst geht über in Staunen, das Staunen in Verwunderung. Dann kicherst du los, lachst verhalten und kriegst dich kaum noch ein.

Du erhebst dich und streckst die Arme 'gen Himmel. "Daaaaannkkeeee!", rufst du zu den fernen Planeten. Erlöst, lässt du den Kopf in den Nacken fallen und schaust in den klaren Sternenhimmel hinein. Du hast heut den Eindruck, sogar bis in die tiefste Ecke des Universums blicken zu können. Erleichterung und Schwerelosigkeit überwältigen dich.

Jetzt sind sie vorbei, begreifst du - all deine ärgerlichen tägliche Probleme sind ab heute vorbei. Ja, das weißt du und spürst es überdeutlich in jeder einzelnen Pore. Du brauchst nicht mehr dem anderen Geschlecht nachzulaufen, du brauchst nicht mehr essen und auch nicht mehr trinken. Du brauchst auch keine Kleidung mehr gegen die Kälte. Und weil's überhaupt niemanden mehr gibt dem du imponieren willst, brauchst du überhaupt keinem Fetisch mehr nachzueifern.

Du brauchst nix mehr zu kaufen, ist die ultimative Schlussfolgerung. Also musst du auch kein Geld mehr verdienen. Schluss mit der Plackerei. Du wirst ab jetzt in den Wäldern leben, wo es so schön und so lustig ist. Du grinst plötzlich ganz hämisch: du brauchst keine Steuern mehr zu bezahlen und keine Politiker mehr tolerieren. Allmählich begreifst du, dass du auch frei von allem Übel bist. Du lebst außerhalb der Gesetze der Bedürftigen nach häuslicher Wärme, Sex, Essen und Mode. Du bist Mega-Autark - du brauchst gar nichts mehr von alledem: keinen Strom, kein Gas, kein Sprit, keine Kondome mehr, keine Blumen mehr für die Schwiegermutter. Über die nervenaufreibende Konsumgesellschaft kannst du ab heute nur noch lachen.

Du tanzt ausgelassen unterm Himmel und rufst: Danke, ihr lustigen Höllen-Geister -  ihr habt mich von all dem erlöst, was mir bisher so himmlisch schien, wenn man es endlich besaß.