Sonntag, 30. Oktober 2011

NIX

Du willst nur mal raus aus der Stadt, um endlich einen klaren Kopf zu bekommen. Du willst diesmal aber hoch hinauf in die Alpen, um weit übers Land zu blicken - so als könntest du von da oben deine Seelenpein aus einem heilenden Winkel betrachten.

 Es liegt hoher Schnee in den Bergen. Die Sonne scheint grell und wärmt dein Antlitz. Der Himmel ist wolkenlos und wirkt dunkelblau. Du bist da oben dem Himmel näher und dir ist plötzlich, als spürest du den Flügelschlag der Engel. Dir ist sogar, als sähest du da einen auf dem vereisten Gratrücken - eine Schneewehe ist vom Kammwind zu einer geflügelten Mädchenfrau geformt. Ihr Gesicht erinnert dich an deine hübsche, damals frischgebackene Lateinlehrerin von der High-School. Sie würde jetzt sagen: "Viel Nix ist gefallen...", und: "Johnny, du siehst da lediglich ein Gebilde aus Nix, du Schlingel."
Nix, heißt Schnee auf Latein. Viel Schnee - Viel Nix - wie gegensätzlich im Deutschen - wie Varus und Armin im Teutoburger Wald.

Du schlürfst den Flachmann leer. Balsam für's Gemüt. Die Sonne prallt auf das Meer aus schneebedeckten Gipfeln, und du bekommst Halluzinationen. Du siehst plötzlich Dinge, die da gar nicht hingehören. Und du fragst dich ungewollt, ob die deutschen Nixen wohl aus diesem lateinischen Begriff abgeleitet worden sind. Nixe, die Schnee-Fee? Wie schön das wäre - und vielleicht stimmt's sogar.

Die reflektierten Sonnenstrahlen blenden dich und lassen deine Augen tränen. Die Nixen beginnen zu tanzen in den vergossenen Seelentröpfchen. Du wünscht dir die stechende Sonne weg, und erzürnst damit die Nixen-Göttin. Sie schickt dir promt dunkle Wolken. Frost zieht auf. Es wird finster, ein Blizzard zieht auf. Mit Mühe nur erreichst du die rettende Schutzhütte - und du weißt: du hast den Nixentanz entweiht.

Am nächsten Tag merkst du, dass die Sonne nicht mehr aufgeht. Du blickst auf die Uhr. Es ist bald Mittag - doch keine einziger Sonnenstrahl scheint durch's Fenster. Es ist stockdunkel da draußen. Gewissensbisse ziehn auf - sie nagen im Gemüt und stechen in der Seele. So also sieht der Zorn der verschmähten Nixen aus. Sie rauben dir das Licht und das Vertrauen. Und es ist unheimlich stille da draußen.

Du steigst in den Wirtsraum hinab und siehst Öllampen brennen - wie noch am Abend zuvor. Das gemischte Handvoll Bergsteiger lächelt dir jedoch entgegen und ergötzt sich an deinem verwirrten Blick.
 "Es hat uns zugeschneit", ruft einer.
"Wir kriegen nix Luft - nur noch durch den rauchigen Kamin", fügt eine Hübsche bei. Sie ähnelt wirklich deiner Lateinlehrerin - könnte vielleicht ihre Enkelin sein.
"Und mit dem Funk ist auch nix", verklickt dir ein Dritter.
"Und unsere Handys taugen hier oben gar nix", sagen zwei bezaubernde Zwillingsschwestern im Synchron. "Und die beiden Kerle werden bald durch den Kamin ins Nix verschwinden - denn der eine ist der Nikolaus und der andere macht den Knecht Ruprecht."

Du mustertst die komische Bande. Dein Flachmann ist leer - du greifst gar nicht danach. Du raunst rätselnd: "Und ihr drei Mädels seid die Nixen die ich gestern im Schnee tanzen sah?"
 Sie lächeln. "Hat es dir denn nix gefallen?"
Du siehst wie die Kerle tatsächlich in den Kamin kriechen und nach oben verschwinden.
 "Und jetzt?", frägst du.
 "Nix!", antworten alle drei Nixen auf einmal. "Nixen vernixen Nix im Nix, niemals nix!"

ENDE